Louise Glück erhält den Literaturnobelpreis des Jahres 2020. Selbst die Kritiker räumen ein, dass Glücks Lyrik exzellent und der Preis wohlverdient ist. Was sie stört, sind die Hautfarbe und die nordamerikanische Herkunft der Preisträgerin. Leiten lassen sich die Kritiker von identitätspolitischen Gesichtspunkten, die in der Kunst – und anderswo – immer schon tödlich gewesen sind. Es ist richtig, dass schwarze Autoren einen solchen Preis verdienen. Mit Wole Soyinka oder Toni Morrison haben Schwarze – und außer ihnen noch andere “people of color” – den Nobelpreis auch erhalten. Wegen der ästhetischen Exzellenz ihrer literarischen Arbeiten. Nicht, weil es schwarze Menschen waren. Es stimmt, dass englisch-, französisch- und deutschsprachige Autoren als Preisträger überwiegen. Es gibt aber auch unter Europäern und Nordamerikanern eine Fülle “ewiger Kandidaten”, die über diesen Status nie hinausgekommen sind. Preise nach einem Proporz von Hautfarben oder Herkünften zu vergeben, erscheint mir ein nicht nur lächerliches Ansinnen, sondern auch eine maßlose Überschätzung von Literaturpreisen zu sein. Der Schwedischen Akademie ein eingeschränktes Blickfeld zu unterstellen, nachdem man um Namensvorschläge gebeten worden ist, die unberücksichtigt blieben, wirkt vorgeschoben: Erstens scheint es nicht um die Autoren zu gehen, die nicht zum Zug gekommen sind, denn das sind außer Louise Glück alle anderen preiswürdigen Autoren auch. Dem Anflug von stellvertretender Missgunst, den die Beschwerde über die “weiße nordamerikanische” Preisträgerin erkennen lässt, liegt vermutlich anderes zugrunde als das Brennen für die eigene Fußballmannschaft. Zweitens sind Literaturfestivals, Lesungen, Literaturdebatten etc.pp viel wichtiger für das Gewinnen einer breiten Leserschaft. Drittens können die enttäuschten Literaturvermittler Gelder oder Mäzene sammeln und einen eigenen Preis stiften, über dessen Vergabe dann sie bestimmen.
Weshalb gibt es keine vergleichbare Akademie auf dem asiatischen und afrikanischen Kontinent oder auf der arabischen Halbinsel? Finanzkraft ist vorhanden, ein Interesse offenkundig nicht. Das ist schade, aber gewiss nicht die Schuld von Europäern und Nordamerikanern. Der Literaturnobelpreis ist nicht alt. Erstmals verliehen wurde er im Jahr 1901 und sehr viele von den Autoren, die ihn im Laufe der letzten 100 Jahre erhalten haben, sind heute nur noch Spezialisten bekannt, geschweige denn, dass ihre Bücher gelesen würden, während viele von denen, die ihn nie erhalten haben, obwohl sie ihn verdient hätten, Pflichtlektüre in den Schulen sind. Überhaupt scheint mir das Preisunwesen – sieht man davon ab, dass die Preisträger vom Preisgeld kurze oder längere Zeit leben können – zum Ersatz ästhetischen Urteilsvermögens verkommen zu sein. Es ist wunderbar, einen Preis zu erhalten, weil es eine Form der Anerkennung ist. Aussagekraft über die Qualität des Werkes, das ein Autor hinterlässt, aber besitzt die Preisträgerschaft nicht. Glücks Gedichte sind, nach allem, was ich an Versen gehört habe, meisterhaft. Das ist entscheidend, nicht, dass sie dafür den Nobelpreis bekommt. Aber ich freue mich über die Würdigung, die einer Autorin zuteilwird, die keine Vielschreiberin ist.