Kürzlich fand ich mich in hitzigen Diskussionen über den Begriff des “Westens” wieder. Rasch stellte sich heraus, dass eine Verwechslung vorlag oder besser: eine Unklarheit bestand. Wenn von “westlichem Denken” oder der antijüdischen Tradition des Westens die Rede ist, bezieht sich das auf den Alten Okzident. Seine hellenistisch-römischen und christlichen Traditionen sind judenfeindlich wie der Historiker David Nirenberg überzeugend dargelegt hat. Allerdings sind diese kulturhistorischen Traditionen im geografischen Westen wie im geografischen Osten, im Abend- und im Morgenland, im Okzident wie im Orient zu Hause gewesen. Der Alte Okzident war das weströmische Reich und entspricht weitgehend dem Abendland, wohingegen das Oströmische Reich das Morgenland oder den Orient umfasste. Es ist kein Zufall, dass sich im heutigen Jordanien wie im gesamten Nahen Osten Spuren hellenistischer und römischer Kultur finden. Im Einzugsbereich des Islamischen Staates wurden sie in letzten Jahrzehnt zerstört. Bis 1453, bis zur Eroberung von Byzanz durch die Osmanen, waren weite Teile des Orients christlich. Die Verknüpfung von Morgenland bzw. Orient mit dem Islam ist recht jungen Datums.
Keine der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam ist im heutigen Europa entstanden, weshalb auch keine von ihnen als Kriterium taugt, um zwischen West und Ost, Abend- und Morgenland, Okzident und Orient zu unterscheiden. Weil der Islam von Judentum und vom Christentum zehrt, die er überbieten und überwinden will und deshalb verwirft, kann man die islamische Judenfeindschaft unter die des Abendlandes subsumieren. Der moderne Westen, mit dem man gewöhnlich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verbindet, konnte nur dadurch entstehen, dass er sich von Religionen gleich welcher Art löste, ohne sie gänzlich zu verbannen. Es ging nicht um Atheismus, es ging um die Trennung von religiöser und weltlicher Sphäre als einer Bedingung dafür, das verschiedenste Religionen auf einem bestimmten nationalstaatlichen Territorium gleichberechtigt nebeneinander existieren können. Ohne diese Trennung ist das nicht möglich. Kulturhistorisch ist das hellenistisch-römisch und christlich geprägte westliche Denken antijüdisch, aber politisch-juristisch ist der moderne Westen wiederum der Versuch einer Selbstkorrektur, die en passant mit der abendländischen Tradition des Antijudaismus bricht. Gelungen ist das bislang aus verschiedenen Gründen nicht oder bestenfalls mit mäßigm Erfolg. Warum? Einer der vielen verschiedenen Gründe für dieses Misslingen besteht im hausgemachten Hass auf den modernen Westen. Diesen Hass bezeichnen der Philosoph Avishai Margalit und der Journalist Ian Buruma in ihrem gleichnamigen Buch mit dem Begriff “Okzidentalismus”. Dazu nächstens mehr.