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Viele Linke sind leider nicht weniger reaktionär als Rechte

Mit Ausnahme der europäischen Sozialdemokratien (einschließlich der jüdischen Bundisten), die Verbesserungen in den Lebensbedingungen ihres einstigen Klientels, der Arbeiterschaft, auf parlamentarischem Weg und mit Reformen erzielten, sind die meisten sozialistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts später in den Totalitarismus abgedriftet. Es spielt eine Rolle, dass sich Sozialdemokraten allerspätestens nach dem Zweiten Weltkrieg vom Marxismus verabschiedet haben. Dabei gelten Linke mancherorts noch heute als progressiv, weil ihre Vorstellungen einer besseren als der jeweils gegenwärtigen Gesellschaft nicht wie bei Rechten in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft lagen. Doch Utopien sind beinah immer menschenfeindlich. Es ist kein Zufall, dass vor allem agrarisch und stark feudal geprägte Gesellschaften im 20. Jahrhundert kommunistische und faschistische Diktaturen errichteten. Das zaristische Russland und China auf der einen, Italien, Deutschland, Japan und Spanien auf der anderen Seite. Hinzu kommen die nach dem Ersten Weltkrieg geschaffenen demokratisch-republikanischen Neuordnungen in Europa, die sich außer der Tschechoslowakei zunächst in faschistische, nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Einfluss und Zwang der UdSSR in kommunistische Diktaturen transformierten. Die Wortschöpfung “total” oder “totalitär” wurde in den 1920er Jahren von Liberalen geprägt und als ablehnende Beschreibung des italienischen Faschismus gebraucht, doch schon bald darauf auch auf den Bolschewismus angewandt. Mit gutem Grund, denn Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, staatsbürgerliche Freiheits- und Grundrechte, Parlamentarismus, Pluralismus etc.pp sahen beide kollektivistischen Ideologien nicht vor. Die liberale Demokratie, anders gesagt: der Westen, war beider gemeinsames Feindbild, die freie Marktwirtschaft, vulgo: der Kapitalismus ebenso und mit ihm Vorstellungen von Juden als “Rasse” oder als “Klasse”. Mussolini war als linker Sozialist gestartet. Im Zuge des Ersten Weltkriegs schloss ihn die Linke als Befürworter des Kriegseintritts Italiens aus. Er betrachtete den Krieg als Brandbeschleuniger einer von ihm ersehnten nationalen und sozialistischen Revolution. Von Mussolini unabhängig begründete Adolf Hitler eine nationalsozialistische Arbeiterbewegung, die völkisch, rassistisch und antisemitisch gewesen ist. Der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus konnten an den Sozialismus des 19. Jahrhunderts anschließen, beide mussten den in ihm verankerten Marxismus durch Nationalismus, Rassedenken und ethnisch homogenisierte Volksgemeinschaften ersetzen. Weder Lenin noch Stalin oder Mao konnten auf marxistische Traditionen und auf ein Industrieproletariat in ansatzweise modernisierten Gesellschaften zurückgreifen. In der Sowjetunion und in China begann eine Industrialisierung erst im Zuge und nach der Errichtung der totalitären Diktaturen. Stalins und später Maos terroristische Durchsetzungsstrategien kosteten Abermillionen Menschenleben. Hungertote, erschlagene oder erschossene Bauern, in Arbeitslagern zu Tode gequälte einstige Genossen, Oppositionelle oder andere als “Feinde” qualifizierte Menschen. Man hört noch immer von Linksradikalen, dass sowohl diese Terrorstrategien als auch die Menschenopfer notwendig gewesen wären, um das Land technisch zu erschließen und auf Vordermann zu bringen. Nach dieser zynischen Logik dürften weder Nordamerika noch Australien noch Neuseeland noch Westeuropa und Israel heute industrialisiert sein. Nun sind der Stalinismus, Mao, Pol Pot und der gesamte Ostblock inzwischen Geschichte.

Worin besteht also der reaktionäre Zug in weiten Teilen der westlichen Linken heute? Erstens in ihrem Schulterschluss mit dem politischen Islam, den sie wiederholt wie seinerzeit die französische Linke gegenüber der islamischen Revolution im Iran 1979 vgl. https://www.nzz.ch/meinung/deutschland-muss-die-gefahr-des-politisierten-islam-erkennen-ld.1585468

Zweitens favorisieren viele westliche Linke noch immer das multikulturelle, statt des transkulturellen Modells eines gedeihlichen Miteinanders. Linke Identitätspolitik ist mit ihrem Fokus auf Race, Class, Gender, ihrem homogenisierenden Gruppendenken, das alle politische, soziale, religiöse, kulturelle Ausdifferenziertheit ethnischer Minderheiten ausblendet, auf dem gleichen Trip wie rechte Identitäre. Indem sie drittens sämtliche Angehörige einer Minderheit hierzulande ausnahmslos und aufgrund des europäischen Kolonialismus der Vergangenheit für sozial unterprivilegiert und machtlos erklärt, folgt sie ihrem alten antiimperialistischen Schematismus – Ingo Elbe spricht von einer “postkolonialen Schablone”, dem keine Empirie entspricht. Sie ist einer bedenklichen  Verschwörungsfantasie erlegen, die alle Menschen mit “weißer” Hautfarbe für schuldhaft in den Kolonialismus verstrickt, für Teilhaber an einer nebulösen Macht und für moralisch korrumpiert und verkommen hält. Das ist Ideologie und weder theoretisch besonders raffiniert oder durchdacht noch wissenschaftlich fundiert. Es ähnelt nicht nur einer politischen Religion, deren Wahrheitsanspruch nicht bezweifelt und debattiert werden darf, es wirft unsere Gesellschaften zurück in ein Rasse- und Klassendenken, das unsere liberalen Demokratien über kurz oder lang aushebeln wird.