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Franz fragt: Kränken Blinde-Kuh-Spiele oder Worte wie “Blindgänger”?

Mich persönlich nicht im Geringsten. Ich fühle mich nicht angesprochen. Es gibt außerdem keinen unmittelbaren Bezug. Nur einen übertragenen. Wer sich als blinder Mensch durch solche Wendungen oder Sprichwörter wie “Ein blindes Huhn findet auch einmal ein Korn” beleidigt fühlen möchte, wird das tun. Blinde Menschen generell vermutlich nicht. Warum auch?! Mir wäre das Übelnehmen zu neurotisch, weil es eine Beziehung herstellt, die faktisch gar nicht existiert. Ich bin nicht blind und dann alles andere. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Ich bin zuerst ein Mensch und vieles andere mehr, zum Schluss auch blind. Klar nehmen mich die Menschen auf der Straße, die mich nicht kennen und die ich nicht kenne, vor allem als Blinde wahr. So what!

Diskriminierungen sind nicht unterschiedslos. Bei Judenhass oder beim Rassismus gegen schwarze Menschen, die beide auch nicht das gleiche sind, ist das etwas ganz anderes. Beim Judenhass gibt es eine jahrtausendealte Vorgeschichte mit mörderischen Folgen bis hin zur Shoa. Juden wurden – auch wenn das unter bestimmten Bedingungen vorkam – nicht in erster Linie als untauglich, “Minderleister” oder Modernisierungsverweigerer angesehen, sondern als Verschwörer, als überlegene, weil betrügerische Finanzleute, als bösartig clever, unmoralisch und hungrig nach Weltherrschaft. Im übertragenen Sinn galt die Synagoge im christlichen Antijudaismus als blind, weil Juden nicht bereit waren ihren Glauben abzulegen und die neue “frohe Botschaft” anzunehmen. Hier figuriert Blindheit als vermeintliche Erkenntnisschwäche. Beim Rassismus gegen schwarze Menschen wiederum spielen der mörderische Kolonialismus der Europäer und Araber sowie die Versklavung eine entscheidende Rolle. Schwarze Menschen wurden lange Zeit als weniger wertvoll und als dominanzbedürftig angesehen. Blinde Menschen haben dagegen keinerlei kollektive Vernichtungs- oder Versklavungsgeschichte erlebt. Man nahm sie einfach bloß als bedauernswürdige, ausschließlich hilfsbedürftige Mitesser wahr, die nichts beizutragen haben, weil sie gehandicapt sind. Im besten Fall galten sie als weise Blinde wie die Seher-Figuren in antiken Dramen.

Klar, bis heute gilt die Abwesenheit oder der Mangel an Sehvermögen oft als eine mit Funktionsuntüchtigkeit aller Art verbundene Einschränkung. Diese Vorstellung spiegelt sich in vielen metaphorischen Wortschöpfungen wie “Blindgänger” oder “Blindflug” wieder, die aussagen, dass etwas fehlgeht, nicht so klappt wie es soll, nicht gelingt, ungewiss und nicht zielsicher, also kein sprichwörtlicher “Volltreffer” oder “Treffer ins Schwarze” ist. Die berühmten “blinden Flecken” deuten an, dass etwas “im Dunkeln” liegt und nicht gesehen im Sinne von nicht beachtet wurde. “Blinde Passagiere” fahren heimlich, weil unbemerkt mit – als mich eine Bekannte unmittelbar nach meiner Erblindung darauf aufmerksam machte, dass wir vergessen hatten, für mich eine Fahrkarte in der S-Bahn zu lösen, witzelte ich, dass das unnötig sei, weil ich ein buchstäblich “blinder Passagier sei. (Blinde fahren in Berlin nur mit einer Wertmarke vom Landesversorgungsamt kostenlos im Nahverkehr, vergessen sie die Marke, zahlen auch sie Strafe.) Die Verknüpfung von Licht, Helligkeit, Sehen, Sinnesvermögen, Erkenntnis, Vernunft und Verstand gab es zwar schon vor der Aufklärung, ist aber seit dieser Zeit besonders eng. Man denke an das Kantsche Diktum, dass Anschauungen ohne Begriffe blind sind.

Psycholinguisten mögen mir widersprechen, aber ich glaube nicht, dass sich die Vorstellungen über das Leistungsvermögen blinder Menschen ändern, wenn wir all diese Metaphern, Sprichwörter, Aphorismen etc.pp aus unserem Wortschatz tilgen, auf ihren Gebrauch verzichten oder sie gar verteufeln. Wenn Arbeitgeber beginnen, Vertrauen in die Fähigkeiten blinder Arbeitnehmer zu setzen, wird sich das Ansehen Blinder in der Öffentlichkeit peu a peu ändern. Bis dahin herrsche ich die Leute, die mit mir ganz langsam und überakzentuiert sprechen, weiterhin an, dass nun wiederum ich lieber blind als blöd bin. Für mich gilt: Ich mach doch deren Problem nicht zum Zentrum meines Alltagslebens.