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All you need is love: Können Juden, christen und Muslime sich über ihre religiösen Überlieferungen einig werden?

Prinzipiell wahrscheinlich schon irgendwie, glaube ich. Aber praktisch wie theoretisch stelle ich mir das außerordentlich schwierig vor.

Als Schwejk 1915 auf seine Geistesverfassung überprüft wird, fragen ihn die Gerichtsärzte unter anderem, ob er an das Ende der Welt glaube. Was er nicht gesehen habe, könne er nicht beglaubigen. Dann tröstet Schwejk die Ärzte, dass man es morgen mit absolut fast gänzlicher Sicherheit noch nicht erleben werde. Die frühen jüdischen und nichtjüdischen Jesus-Anhänger und die ersten Muslime sahen das ganz anders. Für sie war das unmittelbar bevorstehende Weltende Gewissheit. Im ersten Fall hatten die römische Besatzung und mit ihr später die Zerstörung des Zweiten Tempels, im zweiten Fall der byzantinisch-sassanidische Krieg die Hand im Spiel. Solche Verzweiflungstaten wie der Glaube an den Weltuntergang mit allen Schikanen wie dem Jüngsten Gericht, der Auferstehung und der Erlösung sind keine Kleinigkeit, wenn man zuvor die Hölle und das Paradies erfunden hat. Beim Urteil der Gerichtsärzte über Schwejks Geisteszustand aber war der kurz darauf beginnende Erste Weltkrieg noch eine düstere Prophezeiung. Mit ihr war Schwejk in der Kneipe allerdings auffällig geworden, was ihm die Bekanntschaft mit den Gerichtsärzten eingebrockt hatte. Vorläufig schickten sie Schwejk ins Irrenhaus.

Im Ernst: Über den historischen Jesus wissen wir nur, dass er jüdisch war und von Pontius Pilatus als krimineller Aufrührer, der die Autorität Roms gefährdet haben soll, zum Tod am Kreuz verurteilt worden war. Glaubensfragen interessierten die Römer nicht. Im Judentum selbst führten sie bestenfalls zu heftigem Streit und wüsten Beschimpfungen. Doch um gesteinigt zu werden, musste man schon Gotteslästerung betrieben oder religiöse Gesetze übertreten haben. Die jüdischen Schriftgelehrten sahen die Todesstrafe damals bereits äußerst kritisch. Ungesetzliche Lynchjustiz mag vorgekommen sein, aber ob die Steinigungen jüdischer Jesus-Anhänger, von denen die Apostelgeschichte erzählt, tatsächlich stattgefunden haben, ist fraglich.

Paulus glaubte fest an das bevorstehende Weltende und daran, es selber mitzuerleben.   Aus seinen Briefen – immerhin die ältesten Dokumente des späteren Christentums – erfahren wir nichts über den historischen Jesus, den er nie kennengelernt hatte. Apokalypsen, also Offenbarungen mit Weltuntergangsankündigungen, waren im antiken Judentum, dem Paulus entstammte, schwer in Mode. Vielleicht rührte daher sein Missionseifer unter Nichtjuden. Seine Theologie, seine Ausfälle gegen Juden, seine Preisgabe von Herkunft, Land und Beschneidung kann man überhaupt nur unter der Voraussetzung eines nahen Weltuntergangsszenarios als innerjüdischen Streit verstehen. Der Jesus der Evangelien hatte sich ausdrücklich auf die verlorenen Schafe im jüdischen Volk beschränkt. Ob aber der historische Jesus sich selbst jemals als Messias verstanden hat, wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass die meisten damals lebenden Juden ihn nicht als solchen ansahen und die kleine jüdische Strömung, die das tat, innerhalb des Judentums weder mehrheits- noch zukunftsfähig gewesen ist.

Nur wenige Jahre nach Paulus’ Tod sah die Welt im Nahen Osten völlig anders aus. Der jüdische Aufstand, die Zerstörung Jerusalems und des Zweiten Tempels durch die Römer sind historische Fakten. Von den Evangelisten, den Verfassern der Apostelgeschichte und der Offenbarung werden sie nachträglich (!) als Gottesstrafe und als Erfüllung von Prophezeiungen gedeutet. Ihre Geschichten sind nach antiken Erzählmustern mit festen Topoi gestrickt. Sie dokumentieren schon nicht mehr einfach einen innerjüdischen Streit um Auslegungsfragen der Tora und der jüdischen Geschichtsschreibung, sondern legitimieren auf religiöse Weise den Verlust des Tempels und die Vertreibung der Juden aus Jerusalem. Historisch gibt es für die im Neuen Testament präsentierten Legenden keinen Beleg und mit dem historischen Jesus haben sie kaum noch etwas zu tun. Die Darstellung von Juden als einem propheten- und gottesmörderischen, hasserfüllten, verschwörerischen und menschenfeindlichen Volk ist leider die steile Vorlage für einen recht beständigen Gefühls- und Gedankenhaushalt in Religion, Kunst, Kultur, Wissenschaft und Politik über fast 2000 Jahre gewesen, auch wenn man das seit ein paar Jahrzehnten kritisch zu reflektieren begonnen hat.

Sicher, man kann die Offenbarung des Johannes von Patmos mit den Schriftrollen vom Toten Meer lesen und in der Wendung “Synagoge des Satans” eine innerjüdische Polemik gegen die Jerusalemer Priesteraristokratie verstehen oder auch als eine heftige Replik auf Paulus’ Heidenmission oder wegen mir auch als eine Invektive gegen all die nichtjüdischen Gottesfürchtigen um die antiken Synagogen herum, die die Juden sympathisch fanden, aber es ablehnten, die Gebote einzuhalten und sich beschneiden zu lassen. Doch all diese Auslegungsfragen ändern nichts an der antijüdischen Tradition des Christentums, die für Juden über Jahrhunderte hinweg tödlich gewesen ist. Die pagane Judenfeindschaft, die es vor jener des Christentums längst gegeben hatte, war erstens nicht vergleichbar folgenreich für Juden und ist zweitens nicht über einen so langen Zeitraum stereotyp wiederholt worden, dass sie sich ähnlich dauerhaft hätte verankern können wie jene im christlichen und christlich geprägten Kunst- und Kulturleben. Die Trennung von religiös und rassistisch legitimierter Judenfeindschaft lässt sich nicht aufrechterhalten, ganz einfach weil die erste das Grundgerüst für die zweite abgibt und sie leicht erkennbar grundiert. Es hat immer wieder Christen gegeben, die vor und selbst während der Naziherrschaft mit den antijüdischen Traditionen gebrochen haben, nicht mitmachten oder dagegen aufgetreten sind. Doch repräsentativ für das Christentum sind sie leider nicht gewesen.

Heute lesen und analysieren Theologen und Religionshistoriker die christliche Bibel anders – ob das weit über das damit befasste akademische Milieu hinausreicht, sei dahingestellt. Es stellt niemand die absurde Forderung auf, Bachs Passionen nicht mehr aufzuführen oder die Librettos umzuschreiben, judenfeindliche Plastiken in und an Kirchengebäuden ersatz- und wortlos zu entfernen oder entsprechende Gemälde und bildliche Darstellungen zu übermalen. Nur vernehmbar umgehen muss man mit dieser Erbschaft. Einfach zu sagen, dass die hebräische Bibel das Fundament der Freiheit gelegt hätte und die Evangelien jenes der Liebe, ist zu wenig. Mit nur ein bißchen Liebe geht es jedenfalls nicht. Dazu sitzen die antijüdischen Reflexe zu tief, sind in unsere Alltagssprache, unsere Sprichwörter, Redewendungen und damit in unsere Gefühls- und Denkstrukturen eingegangen.

Den angeblich mörderischen Umgang der alten Israeliten mit ihren Propheten – tatsächlich handelt es sich bei der Prophetenliteratur der hebräischen Bibel um Selbstkritik – haben Muslime ebenso von Christen übernommen wie die Jesus-Figur, die für Muslime allerdings nicht göttlicher Natur ist. An den Juden betreffenden Stellen im Koran schimmern immer wieder die Evangelien durch, weshalb es kaum überrascht, dass Juden dort Fälscher, Lügner, Betrüger, Heuchler und Gottesfeinde sind, die ihren Bund mit dem allmächtigen verwirkt haben. Im Islam gelten Juden als Ungläubige und in der islamischen Traditionsliteratur schmieden sie das eine oder andere Mordkomplott gegen prophetisch begabte Menschen, werden allerdings immer wieder von Gott besiegt und bestraft. Auch wenn die Religionskritik in der islamischen Welt noch in den Kinderschuhen steckt, so gibt es sie längst sowohl im Westen – man denke an Hamed Abdel-Samad – als auch in islamisch geprägten Ländern – Ralph Ghadban hat sie in seinem jüngsten Buch dokumentiert https://literaturkritik.de/ghadban-allahs-mutige-kritiker,28370.html. Imaminnen wie Seyran Ates setzen sich kritisch mit der islamischen Überlieferung auseinander, während Islamwissenschaftler wie Abdel-Hakim Ourghi islamische Judenfeindschaft thematisieren und Psychologen wie Ahmad Mansour Strategien dagegen entwickeln.

Christen und Muslime sind naturgemäß nie Gegenstand von Feindseligkeiten in der jüdischen Überlieferung gewesen. Wiederkehrende Modernisierungsschübe im Judentum kann man innerjüdischen Debatten überlassen, weil Juden nur wenig bis gar nicht missioniert haben und sich daran bis heute nichts geändert hat. Auf der Ebene persönlicher Beziehungen und Freundschaften zwischen Juden, Christen und Muslimen sind interreligiöse Konflikte ohnehin selten.

Skeptisch bleibe ich aber, wenn man immer wieder betont, dass und wie viele Parallelen und Gemeinsamkeiten es doch von A wie Abraham bis Z wie Zedaka (Wohltätigkeit) zwischen all den drei monotheistischen Religionen gibt. Kunststück, ich raube Ihre Wohnung aus, wobei ich Ihren Partner, der sich mir beim Einbruch in den Weg gestellt hatte, leider umbringen musste, und lade sie anschließend zu mir zum Essen ein, um Ihnen zu demonstrieren, dass wir uns schon deshalb gut verstehen müssten, weil uns doch gar nicht so viel voneinander trennt?! Erkläre Ihnen noch, wer Sie meiner Ansicht nach so alles sind, was Sie angestellt und völlig verkehrt gemacht haben und nun ändern müssten, damit eine dauerhaft freundschaftliche Beziehung zwischen uns Bestand haben könnte?! Wenn Sie mir daraufhin einen Vogel zeigen würden, würde ich das für eine angemessene Reaktion halten.

Wem gehören Abraham, wem Moses und Jesus?! Vermutlich würde es darüber über kurz oder lang Streit geben. Ich glaube nicht, dass unsere “Gemeinsamkeiten” uns miteinander verbinden, sondern viel eher, dass sie uns trennen würden. Es sei denn, ich räume ein, dass ich Sie beraubt und dabei nicht vor Mord und Totschlag zurückgeschreckt bin, und räume anschließend meine Wohnung wieder aus und das gewaltsam Angeeignete zu Ihnen zurück. Dann überlege ich mir, was ich tun kann, um ähnlichen Raub, Mord und Totschlag Ihnen gegenüber künftig zu vermeiden.
Um nicht mißverstanden zu werden und schon am Jahresanfang miesepeterisch aufzuschlagen: Die Abrahamabkommen bewegen sich auf einer ganz anderen: der politischen Ebene. Sie betreffen das Existenzrecht und die Anerkennung des Staates Israel. Das halte ich für zukunftsweisend. Das Verhalten der UNO und vieler ihrer Mitgliedsstaaten gegenüber Israel finde ich dagegen oft katastrophal. Wär schon schön, wenn Deutschland künftig sein Abstimmungsverhalten in diesem Gremium ändert. Wünschen kann man es sich ja.