Es steht außer Frage, dass Muslime den Islam von Marokko bis Indonesien seit Jahrhunderten unterschiedlich gelebt haben und bis heute leben. (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=yr663Q76D9U) Andernfalls wäre es nicht zu erklären, dass viele der in Deutschland seit Jahrzehnten lebenden Muslime und Ex-Muslime Atheisten, Agnostiker, überaus kritisch oder aber desinteressiert gegenüber dem Islam sind. Viele begehen islamische Feiertage bestenfalls als Kulturmuslime – so, wie viele Christen hierzulande Weihnachten oder Ostern – und finden die spirituelle Seite der Religion nur noch in besonderen Lebenslagen, im Krankheitsfall oder beim Verlust ihnen nahestehender Menschen wichtig. Da die meisten Muslime in Deutschland aus der seit 1923 und bis Erdogans Regierungsübernahme strikt laizistischen Türkei kamen, gab es wegen des Islam bis in die neunziger Jahre wenig Konfliktstoff. Das änderte sich schlagartig in den Nullerjahren des neuen Jahrtausends, als einzelne Muslime begannen, Brandsätze und Steine auf Synagogen zu werfen und erkennbare Juden auf der Straße verbal und körperlich anzugreifen. Die Flüchtlingskrise 2015, seit welcher Millionen gewaltbereiter junger Männer aus islamisch geprägten Ländern wie Syrien, Irak und Afghanistan ins Land kamen, hat dieses und andere ungelöste Probleme lediglich um etliches potenziert, aber nicht erst hervorgebracht. Man denke nur an die seit Ende der neunziger Jahre stattfindenden Al-Kuds-Märsche und den Aufmarsch von Muslimen und Linken vor Synagogen und anderswo im öffentlichen Raum während des Gaza-Konflikts 2014. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, dem größten Pogrom seit Ende der Schoa, gehören juden- und israelfeindliche Aufmärsche und Attacken auf Straßen, Plätzen und in Universitäten zum Alltag in Deutschland. Mörderische Messerattacken, sexuelle Übergriffe, Vergewaltigungen, die Auswirkungen der gestiegene Anzahl an Drogendelikten treffen die ganze Gesellschaft, eingewanderte Muslime ebenso wie die Flüchtlinge selbst, von denen sich – das gehört zum Gesamtbild dazu – einige Gewalttätern und Islamisten entgegengestellt haben. Noch vor zehn Jahren wären Kalifats-Kundgebungen, wie man sie letztes Jahr erleben musste, in der Bundesrepublik undenkbar gewesen.
Weil Islam und Islamismus fließend ineinander übergehen, lassen sie sich nicht trennscharf voneinander unterscheiden. Hinzu kommt, dass der Islamismus – man könnte auch sagen: der islamische Fundamentalismus oder der politische Islam – heterogen ist. Er kennt legalistische Formen, die zumindest offiziell Wert auf die Beachtung der in Deutschland geltenden Gesetze legen, wie es die Islamverbände tun, um untergründig, durch zuerst auf säkulare und liberale Muslime ausgeübtes religiöses Mobbing Einfluss auf die deutsche Gesellschaft zu nehmen, aber auch salafistische Strömungen, in denen das Grundgesetz offen als dem Koran untergeordnet angesehen wird, und dschihadistische Spielarten, die das Land unter Einsatz von Terror und Gewalt in einen islamischen Gottesstaat umwandeln wollen. Die konservativen Islamverbände, die regelmäßig zur 2006 etablierten Islamkonferenz des Innenministeriums eingeladen werden und dort als bevorzugte Partner des deutschen Staates fungieren, bestehen aus Vereinen, deren Funktionäre in der Regel über keinerlei religiöse und religionsgeschichtliche Ausbildung verfügen, aber trotzdem über die Lehrerlaubnis von Islamwissenschaftlern mitentscheiden. Das führte in der Vergangenheit wiederholt zu Konflikten, etwa wenn Islamwissenschaftler wie Sven Kalisch, Mouhanad Khorchide oder Abdel-Hakim Ourghi Lehrmeinungen vertraten, die den konservativ-fundamentalistischen Vorstellungen der Islamfunktionäre nicht genehm waren. Die Islamfunktionäre haben eine politische Agenda und vertreten nicht die Mehrheit der hier lebenden Muslime, die überhaupt nicht organisiert ist. Die Islamverbände sprechen für zusammengenommen höchstens 15 bis 20 Prozent von ihnen. Zu den Islamverbänden gehören beispielsweise die DITIB und die islamistische Milli Görüs, die beide aus der Türkei gesteuert, kontrolliert und finanziert werden, die islamistische Deutsche muslimische Gemeinschaft (DMG) oder der kleine Zentralrat der Muslime, die der Muslimbrüderschaft nahestehen. Sie alle tauchen immer mal wieder in den Verfassungsberichten der Länder und des Bundes auf. Aus all den genannten Gründen wäre es keine gute Idee, den Islam in Deutschland „institutionell“ zu „verankern“, wie es dieser Tage die grüne Bundestagsabgeordnete Lamya Kaddor gefordert hat.
Die anzeigefreudige islamische Religionslehrerin aus dem nordrhein-westfälischen Duisburg, die Türken, Araber und Europäer des antimuslimischen Rassismus bezichtigt, sobald sie ein kritisches Wort über den Islam verlieren, trat bundesweit erstmals 2008 als Islam-Aktivistin in Erscheinung. Als solche ist Kaddor seitdem öffentlichkeitswirksam unterwegs. 2010 gründete sie den Verein Liberal-Islamischer Bund e.V. Dabei blieb immer schon unklar, was genau das Wort „liberal“ bedeuten soll, wer wo welche Freitagspredigten hält und welche Richtungen des Islam (Sunniten, Schiiten, Alewiten, Sufis etc.) unter seinem Dach vereint werden. Liest man bei wikipedia nach, erscheinen einem die Adressaten des Vereins wie politisch-ideologisch geschulte Wähler woker Teile der grünen Partei. Mit dem säkularen und liberalen Reformprojekt der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee der unter Polizeischutz lebenden Berliner Rechtsanwältin Seyran Ates und ihrer Mitstreiter, zu denen die Lehrerin Saida Keller-Messahli, die Politologin Elham Manea und der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi gehören, ist Kaddors Verein, nicht vergleichbar. Die Berliner Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, die seit ihrer Gründung Angriffsziel sowohl konservativ-fundamentalistischer islamischer Institutionen und Islamfunktionäre als auch gewalttätiger Muslime wurde, die sie und ihre Mitglieder mit einer Fatwa zu bannen wünschen, sie verunglimpfen und selbst mit Bomben- und Morddrohungen attackieren, ist, wie es schon ihr Name sagt, ein gar nicht hoch genug einzuschätzender Versuch, dem Islam in Europa eine humanistische Grundlage zu schaffen. Averroes, wie der latinisierte Name des islamischen Gelehrten Ibn Rushd (1126 – 1198) aus Al-Andalus lautet, legte Wert auf die Unterscheidung von Philosophie und Religion, weltlicher und religiöser Sphäre. Er konnte kein Griechisch und war in seinen Aristoteles-Lektüren und -kommentaren auf arabische Übersetzungen aus dem Griechischen im Bagdad des 9. Jahrhunderts angewiesen, als Juden, Christen und Muslime Texte aus dem Griechischen und Persischen ins Arabische übertrugen. Entscheidend ist, dass Ibn Rushd menschlichem Denken den Vorrang vor unüberlegtem, blindem Glauben gab. Mit solchen Grundsätzen der Religionsausübung können die Vertreter der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee an das Beispiel und die Verantwortung jedes einzelnen Muslims anknüpfen und über Goethes „West-östlichen Divan“ gleichzeitig die Verbindung zu Deutschland und zur deutschen Sprache herstellen. Einer der berühmten Vorläufer von Ibn Rushd, der sich ebenfalls mit der Philosophie des Aristoteles beschäftigt hatte, war der persische Gelehrte Avicenna (980 – 1037). Beide Gelehrte lebten nicht zufällig in Persien, das über eine jahrhundertelange vorislamische Wissenskultur verfügte, und in Nordafrika, das auf eine tausendjährige klassisch-antike Bildungstradition zurückblickte, und eben nicht im arabisch-islamischen Kernland. Beider Denken hatte nicht das Geringste mit dem Islam zu tun, so wenig, wie die rege Übersetzertätigkeit im Bagdad des 9. und 10. Jahrhunderts, die tatsächlich auf die Aufgeschlossenheit und die Ambitionen der damals dort wirkenden Herrscher zurückzuführen ist, und mit denen es im 11. Jahrhundert unwiderruflich vorbei war.
Eine Bildungstradition, wie es sie im alten China, in Indien, im Judentum, in Persien, im alten Griechenland, im alten Rom, selbst im Christentum (das ich für den ab dem 2. Jahrhundert durch die ersten Kirchenväter völlig aus dem Ruder gelaufenen Spleen einer Handvoll hellenistischer Juden wie Paulus halte), hat es weder im Islam selbst, der im Koran – von wenigen Stellen abgesehen – Juden und Christen verachtet, zur Distanzierung von ihnen und zu ihrer Vernichtung aufruft, noch in der islamisierten Welt gegeben. Ibn Rushd und Avicenna bilden mit einigen weiteren islamischen Gelehrten, die man wahrscheinlich an einer Hand abzählen kann, historisch überlieferte Ausnahmen von der Regel und haben keine islamische Bildungstradition und Wissenskultur begründet, belegen aber, dass Muslime nicht gänzlich auf ihren Glauben verzichten, ihn aber reformieren und die Scharia aufgeben müssen, um an einer aufgeklärten Welt teilhaben und sie mitgestalten zu können. Das ändert nichts am Befund, dass der Islam die Gedanken- und Gefühlsarchitektur seiner Gläubigen verbarrikadiert und einbetoniert hat. Es gab immer einzelne Muslime und Christen in der arabischen Welt, die Philosophie betrieben und sich in Kommentaren äußerst produktiv mit dem Bildungsgut der griechischen Antike auseinandersetzten, aber es gibt keine eigenständige arabische, gar islamische Philosophie. Wäre es anders gewesen, wäre die moderne Wissenschaft in der arabischen Welt entstanden und nicht im christlichen Europa. Und wäre die maurische Architektur in Nordafrika und im heutigen Spanien genuin arabisch-islamisch, müsste sie – wie die europäische Kathedral- und Dombaukunst – im gesamten arabischen Raum zu finden sein. Die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee könnte, wenn sie europaweit Schule macht, heute eine künftige Bildungstradition unter europäischen Muslimen begründen. Es ist zumindest vorstellbar, dass es anderswo zur Gründung von Ibn-Rushd-Heine-Moscheen, Ibn-Rushd-Proust-Moscheen, zu Ibn-Rushd-Cervantes-Moscheen, zu Ibn-Rushd-Mill-Moscheen, zu Ibn-Rushd-Mozart-Moscheen usw. kommt.
Mit solchen Erneuerern unter den europäischen Muslimen tut sich nicht nur das konservativ-fundamentalistische muslimische Lager hierzulande schwer, sondern auch die Muslime um die Islam-Aktivistin Lamya Kaddor, die wie sie selbst weder dem Attribut „liberal“ gerecht werden noch Reformen anstreben. Das haben Kaddors wiederholte Angriffe auf Islamkritiker gezeigt. Auch auf die Islamismus-Kritikerin Sigrid Herrmann (SPD), deren Expertise Kaddor als laienhaft abtut, so, als müsste man Christ, Theologe, christlicher Fundamentalist, Kommunist, Links- oder Rechtsextremist sein, um die jeweiligen Glaubens- und Gedankengebäude einschließlich ihrer Radikalismen beurteilen zu können. Lieber verbreiten Menschen wie Kaddor fake history, wonach der Islam und selbst noch die orthodoxesten aller Muslime bereits im Mittelalter eine Aufklärung erlebt hätten, die dann die europäische Renaissance angestoßen habe, die wiederum erst im 18. Jahrhundert endlich in Europa angekommen sei. Solchen Humbug erzählen gelegentlich auch öffentlich-rechtliche Journalisten. Ohne die Araber, heißt es, würden die Europäer noch nicht einmal wissen, wer Aristoteles überhaupt gewesen sei. Nur die Araber hätten durch ihre Übersetzungen im Bagdad des 9. und 10. Jahrhunderts die griechische Philosophie vor ihrem Verschwinden bewahrt. Da ich das wiederholt in Kommentaren gelesen und kürzlich von einem Freund gehört habe, muss das so oder so ähnlich formuliert irgendwo in irgendeinem populärwissenschaftlichen Buch geschrieben stehen, das offenkundig viel gelesen und – wie einst die Sprüche Maos – nachgeplappert wird. Nun hat jedermann das Recht, Unsinn zu glauben und zu reden, aber nicht darauf, dass das unwidersprochen bleibt.
Der gesamte Mittelmeerraum einschließlich der Levante war seit der Zeit des Hellenismus – Stichwort Alexander der Große (356 – 323 v. Chr.) – und bis zum Niedergang des weströmischen Reichs im 5. Jahrhundert, an das sich nahtlos der Aufstieg des griechischsprachigen Byzantinischen Reichs anschloss, über tausend Jahre lang vom Bildungsgut der griechisch-römischen Antike geprägt. Folglich waren die Schriften der griechischen Philosophen, Mathematiker und Mediziner sowie der römischen Autoren unter den gebildeten Eliten, dem Staatsapparat, den Beamten, Senatoren, Ärzten, Baumeistern, Handwerkern und wohlhabenden Bürgern geläufig und verbreitet. Alexander der Große drang bis ins persische Kernland und bis zum Hindukusch vor, die Römer in nordwestlicher Richtung bis nach Britannien und hierzulande bis nach Köln, wo Juden übrigens schon im Stadtrat saßen, als das Christentum noch keine römische Staatsreligion war. Die karolingische Bildungsreform zur Wiederbelebung der antiken Wissenskultur, die Einrichtung von Hof- und Klosterbibliotheken, von Skriptorien und der massenhaften Produktion von Büchern sowohl religiöser als auch paganer Inhalte fällt ins 8. Jahrhundert. Die Spätantike und Byzanz waren Vorbilder, auch wenn im mittelalterlichen Westeuropa das Lateinische das Griechische an den Rand gedrängt hatte. Gelehrte wie der in York geborene Alkuin (735 – 804 n. Chr.) und sein Schüler Hrabanus Maurus (780 – 856 n. Chr.), der die Klosterschule in Fulda leitete, waren mit den Werken des Aristoteles vertraut und beschäftigten sich mit dem, was man damals Wissenschaft nannte, mit Medizin, Anatomie, Astronomie, Mathematik, Heil- und Pflanzenkunde. Aus den Klosterschulen, die der Ausbildung nicht nur von Klerikern, sondern auch von Adligen, Beamten und Beratern an den Höfen dienten, gingen seit dem 11. Jahrhundert die europäischen Universitäten hervor (als erstes in Bologna), an denen schließlich das städtische Bürgertum seine Eliten ausbilden ließ. Die gesamte mittelalterliche Scholastik war aristotelisch. Seit Augustinus (354 – 430 n. Chr.), einem der bedeutendsten Kirchenväter, gehörten die Artes liberales zum allgemeinen Bildungskanon christlicher Gelehrter, die sich immer auch mit weltlichen Dingen befassten. Griechisch und bald auch Latein mussten sie allein schon beherrschen, um die Bibel überhaupt lesen zu können. Zu den Artes liberales gehörten neben Sprachphilosophie/Grammatik, Rhetorik, Logik/Dialektik, Arithmetik, Musik, Astronomie und all das selbstverständlich auf der Grundlage der Texte von Platon und Aristoteles, deren Denken der Lehrplan schließlich spiegelte. Auch wenn Kaiser Justinian im 6. Jahrhundert die neuplatonische Philosophenschule in Athen hatte schließen lassen, weil er den christlichen Glauben, den die Philosophen infrage stellten, schon aus Gründen seiner Herrschaftslegitimation zu festigen strebte, gehörte das Denken von Platon und Aristoteles weiterhin zum festen Kanon an höheren Bildungseinrichtungen für künftige Staats- und Verwaltungsbeamte, für Berater und Diplomaten. Auch Ärzte, Architekten, Ingenieure, Baumeister etc. verfügten über ein hohes Bildungsniveau. Anders wären Entwurf und Bau der Hagia Sophia undenkbar gewesen. Mögen lateinische Aristoteles-Übersetzungen aus dem Griechischen im späteren Spanien und im späteren Frankreich Mangelware gewesen sein. Im späteren Italien, das zeitweise zu Ostrom gehört und überdies mit Byzanz zwar im Konflikt, aber dessen ungeachtet besonders durch seine Adels- und Handelsrepubliken im ununterbrochenen Austausch gestanden hatte, lag das Corpus Aristotelicum seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. vor und Abschriften des aristotelischen Werks gab es in Konstantinopel in griechischer Originalsprache. Nahezu zeitgleich zu Ibn Sina (Avicenna) und Ibn Rushd (Averroes) kam es in Byzanz im 11. und 12. Jahrhundert zu einem regelrechten Aristotelismus (https://de.wikipedia.org/wiki/Aristotelismus). Aristoteles-Übersetzungen ins Lateinische erfolgten überwiegend aus dem Griechischen und vereinzelt aus dem Arabischen. Und wenn der hochgebildete Dante in seiner „Göttlichen Komödie“ (1307 – 1320) von den griechischen Philosophen, die er in der Vorhölle einquartiert, weil sie vor Entstehung des Christentums gelebt und deshalb keinerlei Chance gehabt hatten, die frohe Botschaft zu empfangen, ausdrücklich Aristoteles nennt, hat er mehr als nur dessen Namen gekannt. Zuletzt befanden sich unter den zahllosen Büchern, die die vor und nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Mai 1453 nach Italien geflüchteten griechischen Gelehrten mitbrachten, das Werk des Aristoteles.
Seit dem Hellenismus gab es in Europa keine Zeit, in der Aristoteles vergessen – geschweige denn unbekannt – gewesen wäre, auch wenn seine Bewunderer im lateinischen Westen – wie auch im griechischen Osten – während des christlichen Mittelalters immer mal wieder unter Häresie-Verdacht gerieten. Über die Jahrhunderte hat die Kirche vermeintliche und wirkliche Häretiker verbrannt. Wegen einer Aristoteles-Lektüre aber ist keiner auf dem Scheiterhaufen gelandet oder anderweitig ermordet worden. Das gibt es nur im exzellenten Kloster-Thriller „Der Name der Rose“ von Umberto Eco, der, richtig gelesen, gar nicht vom Mittelalter handelt, sondern über moderne Extremismen spricht, und den einige vermutlich in den falschen Hals gekriegt, sprich: nicht verstanden haben. Die Annahme, Kloster-, Stifts-, Dom-, Hof- und Universitätsbibliotheken seien durch Kleriker von vorchristlichem antikem Schriftgut gesäubert worden, ist abenteuerlich und abstrus, weil das genaue Gegenteil der Fall gewesen ist. Auch wenn man sich nicht mit der Überlieferungsgeschichte antiker griechischer Klassiker befasst hat – „Antigone“ haben vermutlich die meisten in der Schule gelesen -, kann man darauf kommen, dass es sich bei den Homerischen Epen, den Dramendichtungen, der altgriechischen Lyrik etc. höchstwahrscheinlich nicht um Rückübersetzungen aus dem Arabischen handelt. Mit den Schriften der griechischen Philosophen verhält es sich ähnlich, Überall, wo es griechische Gelehrte und Bildungseinrichtungen gab, und das war seit dem vierten vorchristlichen Jahrhundert in der gesamten südöstlichen Mittelmeerregion der Fall, gab es auch antikes griechisches Schriftgut. Erst recht in Konstantinopel, in Kleinasien und in der Levante.