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Ferdinand von Schirachs Kunst

Letzten Mittwoch war der Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach in der Talk-Show von Markus Lanz zu Gast. Im Zusammenhang mit Israels Verteidigungskrieg gegen die Hamas im Gaza-Streifen nach dem Pogrom der Terrororganisation vom 7. Oktober 2023 im Süden des jüdischen Staates macht sich von Schirach seit langem Gedanken über Wahrheit und Wirklichkeit (https://www.youtube.com/watch?v=rJVQNBEAfFQ; https://www.juedische-allgemeine.de/politik/wahrheit-und-wirklichkeit/). Anders als der TV-Moderator lehnt es der Enkel des einstigen NS-Reichsjugendführers und Reichsstatthalters von Wien, Baldur von Schirach (1907 – 1974), rundheraus und mit Nachdruck ab, Israel auf der tönernen Grundlage von Spekulationen, Propaganda und Falschmeldungen zu kritisieren: „Sie werden von mir kein Wort gegen Israel hören.“ In der ZDF-Sendung ist das inzwischen gang und gäbe geworden. Von Schirachs familiäre NS-Belastung ist das eine. Sein klares Bestehen auf Tatsachenwahrheiten ist das andere, viel gewichtigere und entscheidende.

Dass Fakten, also Tatsachenwahrheiten, zu bloßen Meinungen erklärt, während Meinungen der Rang von Fakten zuerkannt werden, ist nicht neu. Es ist in der Moderne vielmehr ein Dauerbrenner. In totalitären und autoritären Systemen charakterisiert es die gesamte Informationspolitik und in liberalen Demokratien mit ihren Freiheitsrechten (Meinungs-, Wissenschafts-, Kunst- und Pressefreiheit) betrifft es weltanschauliche Fragen und das image making von Politikern. Hannah Arendt hat darüber 1964 in ihrem Vortrag und Essay „Wahrheit und Politik“ Grundlegendes festgehalten: Meinen, Dafürhalten, Irrtümer und handfeste Lügen lassen sich von Fakten unterscheiden, für die es überprüfbare Kriterien (wer, was, wann, wo etc.) gibt. Man kann zwar verschiedene Wahrheitsformen nach der Art, wie Wahrheiten ermittelt werden, voneinander unterscheiden – eine mathematische Wahrheit wie 2 plus 2 ist vier (Wissenschaft), eine philosophische Wahrheit wie „Leben geben ist besser, als Leben nehmen (Ethik), die Alliierten haben Europa und Deutschland vom Nationalsozialismus befreit (Geschichte), die Hamas hat Israel am 7. Oktober 2023 überfallen und Zivilisten grausam ermordet, nicht umgekehrt (tagesaktuelle Information) -, aber innerhalb dieser verschiedenen Erkenntnisweisen lässt sich immer nur eine Wahrheit ermitteln. Es kann einen Meinungspluralismus geben, aber keinen Wahrheits- oder Faktenpluralismus. Ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit geht Arendt zufolge der menschliche Orientierungssinn verloren. Die unausweichliche Folge davon ist ein fundamentaler Wirklichkeitsverlust. Diese Schwierigkeiten sind nicht aus der Welt zu schaffen. Aber man kann Wissenschaftler, Journalisten, Politiker, Juristen, die eigenen Staatsbürger etc. so ausbilden, dass sie das Handwerk des Ermittelns von Wahrheit beherrschen.

Der bei von Schirach schon vor einem Jahr erwähnte Umstand, dass das Hamas-Massaker noch am gleichen Tag auf der Sonnenallee in Berlin-Neukölln bejubelt und mit dem Verteilen von Süßigkeiten gefeiert wurde, sowie in der folgenden Woche antiisraelische Demonstrationen im Westen stattfanden, lässt vermuten, dass die Hamas und das iranische Mullah-Regime nicht nur das Pogrom selbst, sondern auch seine mediale Vermittlung und die internationale Reaktion darauf mithilfe potenter Geldgeber aus Katar generalstabsartig geplant hatten, um eine nachhaltige Solidarisierung mit Israel, den gefolterten, verstümmelten, ermordeten und in den Gaza-Streifen versschleppten Opfern des Pogroms zu verhindern. Das schreibt und sagt Ferdinand von Schirach so nicht. Er legt es auch nicht suggestiv nahe, nennt aber Anhaltspunkte wie das palästinensische Netzwerk Samidoun, das von der marxistisch-leninistischen Terrororganisation Volksfront zur Befreiung Palästinas weltweit unterhalten wird. Denn aus der von mir aufgestellten Behauptung einer systematisch bis ins Einzelne durchorganisierten Propagandaaktion in westlichen Großstädten und Universitäten wird erst dann eine Tatsache, wenn diese Planung nachgewiesen werden kann. Die antijüdischen und antiisraelischen Aufmärsche, Camps, Gewaltaktionen etc. in der westlichen Welt nach dem 7. Oktober sind ein Fakt, aber wer genau sie wie organisiert und finanziert, in welcher Beziehung Anmelder und Teilnehmer zu Terrororganisationen und Linksextremisten stehen, muss detailliert aufgeklärt werden. Kommt es bei den Propagandaaktionen zu Straftaten, kümmern sich darum Polizei und Gerichte. Doch die Öffentlichkeit wird über all das nur von einem Bruchteil der Medien und einer Handvoll jüdischer Initiativen informiert. Es ist sicher, dass es sich bei den Aufmärschen, Besetzungen öffentlicher Räume und universitärer Einrichtungen nicht um den spontanen Ausdruck von Gefühlen angesichts der Lage im Gaza-Streifen handelt, sondern um gezielt eingesetzte Terrorpropaganda die immer mit verbaler und oft auch mit physischer Gewalt gegen Juden, Journalisten, Gegendemonstranten, Polizisten und Politiker einhergeht.

Die Filmaufnahmen der Hamas-Terroristen von den Morden, Folterungen, Vergewaltigungen und Verstümmelungen vom 7. Oktober, die von Schirach nennt, waren nicht für westliche Augen bestimmt. Sie sollten Israelis einschüchtern, psychisch verletzen und zerstören. Und sie sollten den arabischen und linksextremen Hamas-Unterstützern die Stärke und den Kampfgeist der Terroristen spiegeln, ihnen zeigen, wozu die Hamas in der Lage ist und wozu gazanische Zivilisten bereit sind. Denn schon kurz darauf wurden die an israelischen Kindern, Frauen und Männern begangenen Grausamkeiten des 7. Oktober von Palästinenservertretern im Westen abgestritten und geleugnet.

Fast übergangslos begannen schon wenige Tage nach dem 7. Oktober die Sorge um die Gazaner, Hamas-Opferzahlen, Hamas-Bilder zerstörter Infrastruktur, Hamas-Berichte über die Fluchtschicksale der Gazaner, die katastrophale Versorgungslage, angeblich von den Israelis zurückgehaltene humanitäre Hilfslieferungen, angebliche Hungersnöte unter den Gazanern und Erschießungen hungernder Gazaner in den Verteilungszentren durch Israelis die westlichen Medien und das Internet zu fluten. So gut wie nie wird dazugesagt, dass die Hamas Kinder und Jugendliche zu Kämpfern ausbildet, Lebensmitteltransporte überfällt, konfisziert und auf dem Schwarzmarkt verkauft, dass die Hamas bestimmt, wer als Arzt, Krankenschwester oder humanitärer Helfer im Gaza-Streifen arbeiten darf, welche Bilder und Berichte – von wenigen Ausnahmen der von mutigen Hamas-Gegnern im Gaza-Streifen angefertigten abgesehen – das Gebiet überhaupt verlassen. Vermeintliche arabische „Journalisten“ im Gaza-Streifen sind Hamas-Propagandisten. Als ob es in den Palästinensergebieten jemals freie Medien gegeben hätte! Auch die humanitären Helfer aus dem Westen, Mitarbeiter von UNRWA, Rotem Kreuz, Ärzte ohne Grenzen etc. sind parteiisch und richten sich nach den Vorgaben der Hamas. Der seit 100 Jahren mithilfe der Muslimbrüder erfolgreich erprobte Informationskrieg der Palästinenser funktioniert reibungslos. Früher von den Nazis, danach von der Sowjetunion und dem Ostblock, heute von der Türkei und Katar politisch-ideologisch gefördert und finanziell unterstützt. Auch diese wechselnden Propagandaallianzen blenden fast alle westlichen Berichterstatter aus.

Ferdinand von Schirach bezieht nicht grundlos George Orwells dystopischen Roman „1984“ in seine Darstellung ein: „Krieg bedeutet Frieden / Freiheit ist Sklaverei / Unwissenheit ist Stärke“. Das, was faktisch geschehen ist, wird nach den Maßgaben von Brauchbarkeit und Nützlichkeit ständig propagandistisch verändert, verzerrt und umgedreht. Das geschieht weder zufällig noch versehentlich oder irrtümlich, sondern systematisch, geplant und kalkuliert. Aus Opfern werden so im Handumdrehen Täter und aus Tätern Opfer. Und von Schirach zitiert Orwells Roman ein zweites Mal mit der Katastrophenvision des unausgesetzt von einem Stiefel zertrampelten menschlichen Gesichts, das heißt, der ununterbrochenen Zerstörung der Menschenwürde. Für Schirach sind, wie er schreibt, die sozialen Medien dieser Stiefel. Das konnte man im Fall der antijüdischen und antiisraelischen Hasskampagnen in Deutschland und anderswo in der westlichen Welt übrigens schon während des Gaza-Kriegs 2014 beobachten: Überall die gleichen Parolen, überall die gleichen Bilder, überall die gleichen Falschmeldungen über von den israelischen Verteidigungsstreitkräften angeblich gezielt getöteten palästinensischen Frauen und Kinder.

Allerdings sind die Hamas, das Mullah-Regime, die katarischen Geldgeber und die türkischen Förderer nicht die sozialen Medien. Sie werden von ihnen nur effektiv und effizient benutzt. Ähnliches gilt für westliche UN-Vertreter wie UNRWA oder Francesca Albanese, NGOs wie Amnesty International, Human Rights Watch und Reporter und Ärzte ohne Grenzen, aber auch Juristen an internationalen Gerichtshöfen, die das internationale Recht, Menschenrechte und das Völkerrecht als politische Waffe gegen Israel in Stellung bringen. Soziale Medien sind nur einer der vielen Stiefel im Gesicht des Menschen. Andere marschieren, zertreten und zertrampeln ebenso metaphorisch wie buchstäblich im Analogen. Lahv Schapira, Karoline Preisler oder Iman Sefati können ein Lied davon singen.

Warum auch immer Markus Lanz den Schriftsteller Ferdinand von Schirach in seine Sendung eingeladen hatte, stellenweise wurde man den Eindruck nicht los, dass der Moderator seinen Gast ins Studio zitiert hat, um sich ihn vorzuknöpfen und ihn mit den in den Sendungen häufigen antiisraelischen Fantasien beispielsweise einer Kollektivbestrafung der Gazaner durch die Israelis (Kristin Helberg) zu konfrontieren, worauf sich Schirach nicht einließ. Kollektivbestrafungen waren erstens eine viel geübte Praxis von SS und Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und zweitens auf das deutsche Volk bezogen eine Erfindung von Josef Goebbels, um die Deutschen mit dieser Propagandalüge zum Endkampf zu motivieren. Was Lanz als eine vermeintlich ermittelte Wahrheit vortrug, war eine glasklare Projektion. Lanz ließ nicht locker: Die Israelis nicht kritisieren zu wollen, würde angeblich bedeuten, doppelte Standards bei der Beurteilung ihres Tuns anzulegen. Dabei vergaß Lanz nur, dass Urteile über die israelische Kriegsführung wasserdichtes Faktenwissen voraussetzen, andernfalls ressentimentgeladenes Gerede, Propagandageplapper oder im schlimmsten Fall Verhetzung sind.

Ich weiß nicht, ob sich Ferdinand von Schirach überhaupt als Künstler versteht oder bezeichnen würde. Jedenfalls tut er das, wozu gute Künstler fähig sind: Von Fakten ausgehend die Wirklichkeit so verarbeiten, dass sich aus der ästhetischen Reflexion ein wie auch immer gearteter Zuwachs an emotionalem und gedanklichem Wissen ergibt.