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Warum Götz Aly Schule machen sollte

Nicht selten sind es akademische Außenseiter wie der Historiker Götz Aly, die jene gordischen Knoten entflechten, an denen sich viele ihrer Kollegen jahrzehntelang die Zähne ausgebissen haben. Hartnäckig wiederholt Aly all die einfachen Fragen, von denen am Ende alles abhängt. Mit seinen Büchern zum Dritten Reich, zum Antisemitismus und zur westdeutschen Studentenbewegung lässt sich klären, warum Menschen schließlich wie gehandelt haben, welche Faktoren dabei entscheidend  waren und welche nicht, weshalb beispielsweise die Deutschen die Demokratie 1932 mehrheitlich abwählten, sich für die NSDAP, die Deutschnationalen (DNVP) und die Kommunisten (KPD) entschieden, wieso sie Hitler an die Macht kommen ließen, ihn im März 1933 bei einer Wahlbeteiligung von fast 90 Prozent mit fast 44 Prozent bestätigten und dann zwölf Jahre lang bei der Stange blieben, mitmachten oder die Nazis nahezu widerstandslos gewähren ließen. Denn Widerständler wie Georg Elser, der mit seinem Attentat auf Hitler den sich abzeichnenden Krieg verhindern wollte, die „Weiße Rose“ um die Geschwister Scholl und die Grüppchen um Claus Schenk Graf von Stauffenberg, die politischen KZ- und Zuchthaushäftlinge fallen bei einer Bevölkerung von über 60 Millionen Deutschen nicht ins Gewicht, weil sie zusammengenommen nur zehn Prozent davon ausmachten. Und noch weniger diejenigen Deutschen, die ihre Ablehnung der Nazis damals nur ihrem Tagebuch anvertrauten. Die Buchvorstellungen, die gegenwärtig zu Alys „Wie konnte das geschehen?, Deutschland 1933 bis 1945“ stattfinden, geben Einblicke in einen weniger neurotischen Umgang mit der Nazi-Zeit, dem Hineingleiten der Deutschen in den NS-Totalitarismus und die Frage, wie der in der Menschheitsgeschichte präzedenzlose Holocaust (dazu Yehuda Bauer https://www.youtube.com/watch?v=Nsfz8qWPcAw) möglich wurde Man sollte sich die Diskussionsrunden und Gespräche mit Götz Aly anschauen und das Buch lesen https://www.youtube.com/watch?v=BsyjXBhSaC0; https://www.youtube.com/watch?v=_tcHTeZAqfA; https://www.youtube.com/watch?v=rt6wWOhTwTo; https://www.youtube.com/watch?v=EODx3P98PYw.

Das politische Programm der Nationalsozialisten bestand seit ihrer Gründung 1920 aus den beiden Säulen Sozialismus und Judenhass. Sozialistischer Antikapitalismus und Antisemitismus sind nur zwei Seiten ein und derselben Medaille, denn Kapitalismus – vor allem Finanzwirtschaft – und Judentum sind ebenso fälschlich wie traditionell, also keineswegs nur von Karl Marx miteinander verknüpft worden. Im „Weltanschauungsfieber“ um 1900 plus minus 30, 40 Jahre waren beide in den europäischen Gesellschaften so allgemein und weit verbreitet, steckten so tief und fest im europäischen Gedanken- und Gefühlsleben des 19. und 20. Jahrhunderts, dass ihr wirkmächtiger Weltanschauungscharakter kaum mehr als solcher wahrgenommen wurde. Der große Anklang, den Hitler 1933 selbst unter Gewerkschaftern, Sozialdemokraten und Kommunisten fand, kann niemanden verwundern. Beim Nazi-Regime handelte es sich um eine „Zustimmungsdiktatur“. Zu den großen Vorzügen von Alys Darstellung gehört es, mit liebgewordenen Legenden, Schutzbehauptungen und Lebenslügen über das Verhalten der allermeisten Deutschen in der Nazi-Zeit aufzuräumen. Dazu gehören die Behauptung, die Gewerkschaften seien 1933 aufgelöst und verboten worden, denn in Wahrheit wurden sie umorganisiert und restrukturiert, sowie die Behauptung, die Deutschen hätten allesamt mit einem Bein im KZ oder Zuchthaus gestanden, denn das betraf von Anfang bis Ende nur einige Zehntausende und die schlimmsten Repressionen gegen die eigene nichtjüdische Bevölkerung begannen erst im Jahr 1942. Die Weimarer Koalition aus Sozialdemokraten, katholischem Zentrum und Liberalen war im Zuge der Weltwirtschaftskrise auseinandergebrochen und dies nicht zuletzt, weil ihre Politiker sich ständig gegenseitig blockierten und die Probleme der damaligen deutschen Bevölkerung deshalb nicht zu lösen vermochten. Dabei lagen Autobahnbau, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und neue Steuerpolitik, die Hitler von nicht wenigen Deutschen noch heute hoch angerechnet werden, als ausgearbeitete Pläne, Notmaßnahmen und Gesetzesvorhaben in den Schubladen der Weimarer Ministerien. Ein Ende der allerschlimmsten Nöte und allmähliche Verbesserungen in den Lebensbedingungen der deutschen Bevölkerungsmehrheit hätten sich vermutlich nicht so rasch eingestellt wie unter der Regierung Hitler, waren aber Ende 1932 zumindest für Fachleute absehbar. Hitler gewann die Deutschen aus zwei Gründen für sich: Einmal aufgrund des schlechten Agierens der Weimarer Koalitionsparteien und zum anderen, weil er den Deutschen unablässig soziale Geschenke machte, von der Gesundheitsfürsorge über den 1. Mai als bezahlten Feiertag bis hin zur Krankenversicherung für Rentner. Aly zählt die Segnungen der NS-Sozialpolitik minutiös auf, die auch nach 1945 nicht abgeschafft wurden und von denen die meisten Deutschen nicht wissen, dass sie nicht die Sozialdemokraten errungen hatten, sondern dass sie eines der vergifteten Geschenke des „Führers“ waren, um jeden politischen Protest im Keim zu ersticken und sich die Massen gewogen zu halten.

Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass der Sozialismus ein vornehmlich linkes Projekt, gar ausschließlich marxistisch gewesen wäre. Faktisch gab es ihn in beinah allen politischen Strömungen mit unterschiedlichen Färbungen, in verschiedenen Schattierungen und Abstufungen, in christlichen, in konservativen, rechten, linken und fortschrittlichen Parteien, sogar, wenn auch verhalten, bei den Liberalen. Was den Sozialismus „rechts“ und „extrem“ machte, war seine Verbindung mit radikalem Nationalismus bei den europäischen Faschisten, mit Völkischem und der Vorstellung einer Blutsgemeinschaft bei den Nationalsozialisten, die sich dadurch noch einmal deutlich von Mussolinis Italien, Franco-Spanien und den bis 1938 in Österreich regierenden Austrofaschisten unterschieden. Bei Faschisten und Nationalsozialisten ist der Sozialismus exklusiv auf das eigene Volk und die eigene Nation beschränkt, die die Nationalsozialisten „Rasse“ nannten. Es gab nie eine faschistische Internationale, aber sehr wohl eine linkssozialistische und kommunistische. Die Marxisten und Leninisten waren zwar keine Antinationalisten, setzten aber auf ein internationales Proletariat als entscheidenden Akteur, auf Klassenkampf gegen Unternehmer und die traditionellen Eliten sowie auf eine Weltrevolution, durch die so gut wie alles Kapital vergesellschaftet und Privateigentum zugunsten von Volkseigentum abgeschafft werden würde. Auch der linke, national- und sozialrevolutionäre Flügel der NSDAP um die Brüder Strasser verfolgte solche Ziele, spielte ab 1933 allerdings keine Rolle mehr. Gregor Strasser wurde im Zuge der Röhm-Affäre im Juni 1934 ermordet. Hitlers Version eines Sozialismus sah keine Enteignungen nichtjüdischer Unternehmer und Bankiers vor, keine Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und der Finanzwirtschaft. Er betrieb eine auf die Rüstung zugeschnittene, mit Vierjahresplänen operierende dirigistische, gelenkte und kontrollierende Wirtschaftspolitik. Sie hatte mit Marktwirtschaft nicht viel zu tun und steuerte Deutschland nach nur fünf Jahren in den Staatsbankrott. Der 1939 vom Zaun gebrochene und ständig ausgeweitete Angriffs- und Vernichtungskrieg war der vergebliche Versuch, die immensen Staatsausgaben zu refinanzieren. Aly nennt das die „mörderischste Konkursverschleppung der Weltgeschichte“. Auch wenn es anfangs so ausgesehen haben mag, tatsächlich meinten es die Nazis nicht gut mit der deutschen Bevölkerung. Das hat seit 1933 vielleicht niemand so klar gesehen und ausgesprochen wie die Brüder Thomas und Heinrich Mann. Anders als die meisten Künstler, die in der Regel wenig Ahnung von Politik haben und diesbezüglich oft Schaumkronen produzieren, bewiesen sie in Fall von Hitlerdeutschland Weit- und Durchblick.

1945 gab es, rechnet man alle NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder zusammen und zählt die Ehefrauen von SS-Männern sowie all diejenigen dazu, die wie Leni Riefenstahl zwar nie in der Partei waren, aber die NS-Politik aktiv unterstützten und keineswegs nur passiv mittrugen – und von denen gab es unter Künstlern, Journalisten, Lehrern und Professoren etliche – schätzungsweise um die zwölf bis dreizehn Millionen Nazis bei einer Gesamtbevölkerung von etwas über 60 Millionen. Das sind zwischen 20 und 30 Prozent aller Deutschen. Ende 1932 waren es noch 1,2 Millionen und ein Jahr später schon fast vier Millionen NSDAP-Mitglieder, wobei so mancher Beamte der Partei vermutlich nicht aus Überzeugung, sondern aus reinem Opportunismus beigetreten war. Die deutsche Gesellschaft war, wie Aly zu Recht betont, selbst nach zwölf Jahren nicht „durchnazifiziert“. Das ändert nichts daran, dass sie die Nazi-Herrschaft immer aufs Neue stabilisierte, mittrug oder zumindest erduldete. Seit dem Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion befand sie sich überdies mit den Nazis in einer „Raub- und Verbrechensgemeinschaft“ nach dem Motto „mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen“. Durch Erzählungen von Frontsoldaten auf Urlaub, durch Berichte jener wenigen aus den Vernichtungslagern entkommenen Häftlinge, durch BBC-Radiosendungen und die ausländische Presse, aber auch durch die zweideutige Nazi-Propaganda selbst wussten die Deutschen, wenn sie wollten, über den gezielten und geplanten Judenmord, das Verhungern- und Erfrieren-Lassen von Kriegsgefangenen sowie die Kriegsverbrechen an polnischen und sowjetischen Zivilisten Bescheid, weil es dem Kalkül der NS-Führungsriege entsprach, die deutsche Zivilbevölkerung zu Mitwissern zu machen und in Mithaft zu nehmen, um sie zum Endkampf aus Furcht davor zu motivieren, die Alliierten könnten das Gleiche mit ihnen machen, was SS und Wehrmacht in den okkupierten Gebieten Europas getan hatten. Die deutsche Kollektivschuld ist eine Erfindung von Joseph Goebbels, nicht der Alliierten.

Es mag keine spezifische NS-Ideologie gegeben haben, wie sie analog dazu der Marxismus-Leninismus darstellt, aber dass die Nazis und vor allem die SS Rassekämpfer und Weltanschauungskrieger gewesen sind, lässt sich schwer bestreiten. Die Vorstellung kollektiver Höherwertigkeit und rassischer Überlegenheit, die Idee eines auf Leben und Tod auszufechtenden Rassenkampfs samt Symbolik und Mystifikation von „Blut“, die dazu komplementäre Erfindung einer „jüdischen Gegenrasse“, die angeblich das Ziel verfolge, die Deutschen auszurotten, einer Anbetung alles Nordischen, einer „Egalität nach Innen“ und einer strikten Hierarchie nach Außen bildeten ein Ensemble handlungsleitender Überzeugungen, das mit Sicherheit nicht von sämtlichen Deutschen geteilt wurde, aber das Täterkollektiv der SS-Einsatzgruppen, der Polizeibataillone, des SS-Personals in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern sowie Teile der Wehrmacht zusammenhielt, die aus allen sozialen Schichten, Milieus und Berufen stammten (zur Aktion Reinhardt https://www.youtube.com/watch?v=qGCcejP5bTo). Vielen von ihnen war bewusst, dass sie Unrecht tun, weil es offensichtlich war, aber ihre Beweggründe vom Aufstiegswillen über das Bedürfnis, zu einer Elite zu gehören, Gier nach Macht über Menschen und Ansehen bis hin zur gelegentlichen persönlichen Bereicherung ließen Skrupel und Gewissensbisse gar nicht erst aufkommen. Aly bleibt nicht bei seinem Hinweis stehen, dass sich zwischen den „SS-Fressen“ auf der einen und den Opfern auf der anderen Seite das Gros der deutschen Bevölkerung befand, das nicht wissen wollte, wegschaute, weghörte, schwieg und gleichgültig blieb, sondern versucht Erklärungen dafür zu finden.

Diejenigen Deutschen, die 1933 für Hitler stimmten, hatten, auch da  ist Aly zuzustimmen, nicht den Holocaust gewählt. Es erhob allerdings auch niemand Einspruch gegen die Fülle antijüdischer Maßnahmen und Gewalt, die wie der Boykott, das Novemberpogrom und schließlich die Deportationen öffentlich stattfanden. Wie Raul Hilberg in Claude Lanzmanns Dokumentarfilm „Shoah“ (1985) anmerkt konnten die Nazis auf weit verbreitete und tiefsitzende antijüdische Ressentiments mit einem zweitausendjährigem Vorlauf von der frühen Kirche über Luther bis hin zu den Antikapitalisten der Moderne bauen. Folglich fielen die Reaktionen unter den nichtjüdischen Deutschen auf Hitlers Judenpolitik gemischt bis verhalten aus, reichten von Zustimmung, Häme, Schadenfreude, Billigung über Gleichgültigkeit, Distanz, Befremden bis hin zu Ablehnung, stummem Entsetzen und Mitleid mit den verfolgten Juden. Wie Hitlers Sozialpolitik wirkte auch der Antisemitismus „integrativ“. Der NS-Rasseantisemitismus – das Wort ist zeitgenössisch und nicht nachträglich, wie Aly irrtümlich annimmt – war recht spezifisch, entstammte Hitlers von Wagner-Opern geprägter morbider Wahnwelt aus nordischen Göttern, germanischen Helden, christlichen Gralsrittern einschließlich ihrer Blut-Mystik, den Erlösungs- und Untergangsfantasien sowie dem Bayreuther Kreis um die Wagner-Witwe Cosima und ihren Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain, von dem Hitler die Vorstellung eines Rassenkampfes auf Leben und Tod übernahm, der – analog zum marxistischen Klassenkampf – die entscheidende Triebkraft in der Weltgeschichte sei. Der Historiker Saul Friedländer, der dafür die treffende Bezeichnung „Erlösungsantisemitismus“ fand, hat das in seinem Werk „Das Dritte Reich und die Juden“ präzis dargelegt. Man muss sich bloß die Posener Reden Heinrich Himmlers vom Oktober 1943 und die Aussagen des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss beim ersten Nürnberger Prozess 1946 anhören, um zu wissen, wie die Logik der Judenvernichtung funktioniert hat, die im Juni 1941 mit den Massenerschießungen im Baltikum, in Weißrussland und der Ukraine in Gang kam, nicht erst im Herbst mit den Vergasungen in Lastkraftwagen und stationären Gaskammern, mit denen die Nazis lediglich die Tötungsmethode der Krankenmorde fortsetzten, um erstens die Nerven der Täter zu schonen und um zweitens effizienter zu morden. Die drei von Daniel Goldhagen in den 1990er Jahren aufgestellten Bedingungen für den Holocaust waren erfüllt: Die Deutschen hatten erstens 1933 die radikalsten Antisemiten an die Macht gewählt, die im Zuge einer „kumulativen Radikalisierung“ in die Tat umsetzten, wovon sie und allen voran Adolf Hitler seit 1919 immer aufs Neue sprachen: die Juden zu beseitigen; zweitens standen die nichtjüdischen Deutschen Juden größtenteils reserviert bis feindselig gegenüber und ließen sich zu Zehntausenden direkt und zu einer halben Million indirekt über die Bürokratie bereitwillig in das Mordhandwerk und seine Organisation einspannen, das drittens den Krieg benötigte, in dessen Schatten es ungehindert verübt werden konnte, während die allermeisten Deutschen ihren moralischen Kompass verloren hatten und nur noch um sich selber kreisten.

Lanzmanns Film „Shoah“ (1985) ist auch deshalb so aufschlussreich, weil er neben den Augen- und Zeitzeugen sowie dem Historiker Raul Hilberg auch die Atmosphäre der siebziger Jahre mit ihrer Schuldabwehr und dem hartnäckigen Nicht-Wissen-Wollen einfängt. Die jüngste Arte-Doku zur Entstehung von „Shoah“ belegt im fortgesetzten Täterschutz die Komplizenschaft der Nachbarschaft und Ehefrauen einstiger Gaswagenfahrer und SS-Einsatzgruppenleiter komprimiert https://www.arte.tv/de/videos/117204-000-A/ich-hatte-nur-das-nichts/.

Man kann nach all den Prozessen gegen die Täter seit den späten 1950er Jahren, den Berichten der Opfer, jahrzehntelanger Forschung und Lanzmanns neunstündigem Dokumentarfilm mit wenigen Worten Genaueres zur Shoah sagen, als dass es das bislang schlimmste aller Verbrechen gewesen ist. Winston Churchill, der den Judenmord bereits im Juni 1944 aufgrund detaillierter Berichte geflohener jüdischer Häftlinge das „größte“ und „schrecklichste“ Verbrechen in der Menschheitsgeschichte nannte, konnte noch so reden. Doch wer heute in Deutschland Parlamentarier auf welcher Ebene auch immer sein will, ganz gleich, welcher Herkunft er ist, sollte über genaueres Wissen zur Shoah verfügen, weil es seit Jahrzehnten leicht zugänglich ist – auch über ihre nichtdeutschen Helfer in Europa und arabisch-palästinensische Unterstützer wie Haj Amin al-Husseini. Und er sollte in der Lage sein, mehr als Floskeln abzusondern und formulieren können, worin die Besonderheiten der „Endlösung der Judenfrage“ gegenüber anderen Genoziden bestanden und bestehen. Ihr beispielloser Charakter ergibt sich daraus von alleine. Und, by the way, auch die Tatsache, dass sie ihren letzten Grund in den Hirngespinsten ihrer Initiatoren hatte. Die Täter-, Mitläufer- und Zuschauergeneration, die sich schuldig gemacht hat, ist fast ausgestorben. In Deutschland bestimmen heute die zweite und dritte Nachfolgegeneration das politische und gesellschaftliche Leben, die wie schon die Generation des 1947 geborenen Aly weder Schuld noch Verantwortung für das Tun und Lassen ihrer Eltern, Groß- und Urgroßeltern tragen. Verantwortung haben sie aber für die Erinnerung daran. Die heute lebenden Deutschen könnten weniger feige als ihre Vorfahren nach 1945 sein. Sie könnten mehr Mut beweisen und den Mordtaten ins Auge blicken. Es gibt keinen Grund auszuweichen und das vergangene Grauen abzuwehren, wie es der 1990 geborene anhaltinische AfD-Landesvorsitzende Ulrich Siegmund kürzlich im Politico-Interview getan hat (https://www.youtube.com/watch?v=Cm7mLB6bDiM). Ein bewiesenes und detailliert dokumentiertes Verbrechen im Ausmaß der Shoah war vor dem 20. Jahrhundert nicht möglich. Um das zu wissen, muss niemand die Verbrechensgeschichte der Menschheit kennen und vergleichshalber heranziehen. Dass es nicht nur für die jüdischen Shoah-Überlebenden und ihre Kinder, sondern auch für die schuldlosen Nachfahren der Täter vielleicht nicht immer leicht ist, damit zurechtzukommen, besonders dann, wenn sie wie nicht wenige Protestanten – siehe Gudrun Ensslin – im Elternhaus mit einem Hang zum Moralismus aufgewachsen sind, steht auf einem anderen Blatt. Die mit Siegmund fast gleichaltrige ARD-Israel-Korrespondentin Sophie von der Tann (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien-und-film/medienpolitik/friedrichs-preis-fuer-sophie-von-der-tann-ist-ein-fatales-zeichen-110795170.html) hat dagegen kein Problem mit toten Juden, aber mit lebendigen, sofern sie Zionisten oder Israelis sind und nicht, wie von der Tann selbst, in der tätigen Empathie und Solidarität mit den arabischen Palästinensern besonders nach dem 7. Oktober 2023 die vermeintlich richtigen, tatsächlich aber falschen Lehren aus der Shoah gezogen haben. Die öffentlich-rechtliche Israel-Berichterstattung, in welcher der jüdische Staat in der Regel als Aggressor und zweifelhafter Propagandist  erscheint, ist eine jahrzehntelang geübte Entlastungsstrategie jener Nachfahren von Tätern, Mitläufern und Zuschauern, die sich mit der Shoah befasst, aber unter dem Gewicht der Tatsachen das Bedürfnis entwickelt haben, sich von der drückenden Last zu befreien, indem sie das einstige Opfer in einen Täter verwandeln, der nun seinerseits grausame Verbrechen verüben würde und das ausgerechnet an denjenigen, die wie ihre eigenen Vorfahren in das Menschheitsverbrechen verstrickt gewesen sind. Das scheint mir der Grund dafür zu sein, warum die Hamas als Terrororganisation, die flächendeckend ausgebaute Infrastruktur der Terrortunnel, ihre enge Verflechtung mit der UNRWA und der Gazaner Zivilbevölkerung in der Berichterstattung fehlen und das Hauptaugenmerk dieser „Journalisten“ stattdessen auf jeder Israel dämonisierenden Propagandalüge von vermeintlich willkürlichen Bombardements, angeblich von Israel gezielt herbeigeführten Hungersnöten etc. liegt. Für die von der Tanns hält Götz Alys „Unser Kampf“ über die westdeutsche Studentenbewegung wichtige Einsichten bereit.

Als einstiger Aktivist dieser linkstotalitären Bewegung, die vieles aus der DDR und vom gesamten Ostblock übernahm, hatte Aly 2008 einen „irritierten Blick zurück“ vor allem auf die Akademiker seiner Generation geworfen. Alys Resümee nach Sichtung der Fakten lautete, dass die 68er ihren 33er Eltern sehr viel mehr ähnelten, als dass sie sich von ihnen unterschieden. Sie änderten nur die politischen Vorzeichen ihrer zerstörerischen und gewalttätigen Aktivitäten von braun auf rot und glaubten, sich aus der deutschen Geschichte verabschieden zu können, indem sie sich ins entgegengesetzte totalitäre Fahrwasser begaben: derselbe, nunmehr auf den Zionismus und Israel bezogene Judenhass, derselbe Hass auf die USA und den gesamten Westen, derselbe Schulterschluss mit den arabischen Palästinensern, derselbe Hass auf die freie Marktwirtschaft, derselbe sozialistisch-revolutionäre Impetus, derselbe Hang zu Gewalt und Zerstörung, derselbe missionarische Weltrettungseifer. Es ist höchstens zehn, fünfzehn Jahre her, dass die Linksterroristen der RAF, der Roten Zellen, der Bewegung 2. Juni et al im linken Milieu nicht mehr als heimliche Helden, bloße politische Abenteurer und nur ein bisschen verirrte Schäfchen aus dem eigenen Stall gelten, die sich zwar etwas verlaufen, aber die richtige Gesinnung hatten, auch wenn sich das in den öffentlich-rechtlichen Medien noch immer nicht überall herumgesprochen zu haben scheint. Mit der Gründung der Grünen und Teilen der damaligen SPD-Jugend war es der Bundesrepublik immerhin gelungen, die linkstotalitäre Bewegung einzufangen und parlamentarisch zu domestizieren. Allerdings zu dem Preis, dass all diese Ideen bis heute in mundgerechter Häppchenform und mit zeitgemäß angepassten Floskeln garniert gereicht werden.

Erst wenn Alys Umgang mit der zwölfjährigen Nazi-Zeit, mit der zweiten Schuld (Ralph Giordano) der Abwehr, des Verschweigens, Vertuschens und des Ausweichens nach 1945, wozu die linkstotalitäre Studentenbewegung gehört, zum Standard wird, kann das Gift aus den Herzen und Hirnen junger Deutscher entweichen.