Im modernen Europa gab es angefangen von Kaffee, Tee, Gewürzen, Zucker, Kakao und Tabak eine Fülle fantastischer Vorstellungswelten, die das Bild vom Orient in diesen Breiten geformt haben, von Forschungs- oder Reiseberichten über Märchen, Abenteuerromane, Opern, Theaterstücke, Zirkuspantomimen bis hin zu den Museen, Kunstausstellungen und Völkerschauen. Ist Europa, genauer der Westen ohne all das denkbar? Ja, erstens tranken die weitaus meisten Menschen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein und später in mageren Zeiten Aufgussgetränke aus heimischen Früchten, nutzten kaum Gewürze oder Zucker und auch der Tabakkonsum verbreitete sich erst langsam über die adeligen Höfe seit dem 17. Jahrhundert. Produkte wie diese wurden im Zuge des Kolonialismus aus Südamerika und Asien in Europa eingeführt. Zur Massenware wurden sie erst um 1900. Zweitens gab es solche und ähnliche Fantasien auch zu anderen Sujets, vom Alten Rom über das mittelalterliche Rittertum oder das Italien der Renaissance bis hin zum Barock und den Schweizer Alpen. Drittens fußt der Westen auf den Prinzipien von Pluralität, von Gewaltenteilung und ihrer Kontrolle, von Rechtsstaatlichkeit, Volkssouveränität, repräsentativer Demokratie, zunehmender Trennung von Staat und Religion, von Menschenrechten, von Wissenschaft (Aufklärung), individuell einklagbaren Freiheits- und Bürgerrechten, der Dynamik unausgesetzter Selbstkritik, Selbstreflexion und Selbstkorrektur etc.pp. Innereuropäische Emanzipationsbewegungen haben diese Prinzipien peu a peu seit dem 18. Jahrhundert durchgesetzt. Das hat den widersprüchlichen, uneinheitlichen und wandelbaren Charakter Europas geprägt. Edward Said dagegen macht in seiner Studie “Orientalismus” (1978) kollektivpsychologische Abgrenzungsoperationen gegenüber dem Orient, Arabern und dem Islam für das europäische Selbstverständnis und Selbstbild verantwortlich. Zu Recht hat Ingo Elbe diesen an historischen Fakten völlig uninteressierten kollektiv-narzisstischen Schematismus Saids “Schablonendenken” genannt. Dazu nächstens mehr.