Über zehn Jahre gehörte sie als ständiges und viel bewundertes Mitglied zu unserem Freundeskreis: eine kleine schwarze, grazil gebaute Katze. Vera hatte sie im Alter von zwei Jahren aus einem Berliner Tierheim geholt. Bald hieß sie nur noch “Kraki”, später nur noch “Krax”. Wegen des langen Armes – “Krakenarm” -, mit dem sie nach dem Gelb des Eis, dem Käse oder dem Fisch auf dem Frühstückstisch langte. Es interessierte sie nicht die Bohne, stellte man ihr ein eigenes Ei, eigenen Käse, eigenen Fisch vor die Nase. Reizlos, weil das Spiel entfiel. Krax war nicht nur ein ungewöhnlich elegantes Tier mit weichem, glänzenden Fell. Sie hatte auch Sinn für die Kunst, die wir mochten, die Dinge, die wir genossen, die Technik, die wir benutzten. Jedes einzelne Blatt, das der Drucker auswarf, wurde von einem ihrer federleichten, aber bestimmten Tatzenhiebe “genehmigt”. Hin und wieder lief sie über die Computertastatur. Was sie im wahrsten Sinne des Wortes beiläufig protokollierte, ergab Sinn. Lautete die Kapitelüberschrift: “Genies” gefolgt von drei, vier Namen, setzte sie dahinter “+-0”. Verließ man die Wohnung und warf noch einen kurzen Blick zurück, schaute sie einen vorwurfsvoll fragend an: “Was gehst du weg, wo ich doch hier bin!” Man murmelte schuldbewusst: “Ich geh nur frische Hähnchenmägen besorgen.” Die liebte sie. Wann Krax erblindete, weiß niemand genau. Erst als Vera etwa zehn Jahre später mit ihrem heutigen Ehemann in eine gemeinsame Wohnung zog, streifte und schrammte Krax anfänglich manchmal die Türpfosten in der für sie ungewohnten, neuen Umgebung. Als sich später ein Glaukom bildete, gab es nur zwei Möglichkeiten, sie von den starken Schmerzen zu befreien: sich von ihr zu verabschieden oder Ihr die schönen Katzenaugen entfernen zu lassen. Schwere Entscheidung. Sie fand mit vernähten Augenschlitzen blindlings ihre Fressnäpfe, ihr Klo, ihre Spielsachen und die Sofalehne, auf der sie so gern hockte. Ihre Arme streckte sie weiterhin zielsicher nach unseren Lachsbrötchen aus. Als ich meinen Proviant für eine Reise zusammenstellte, sprang sie auf den Küchenstuhl, stützte ihre Vorderläufe auf den Tisch und schnupperte aufgeregt nach dem Brotbelag. Es sollte unser letztes Spiel gewesen sein. Kurz darauf erlitt Krax infolge einer Krebserkrankung eine Querschnittslähmung und wir mussten Abschied nehmen. Ihre Blindheit hatte ihrer Lebenslust mit dem sicheren Gespür für Auserlesenes keinen Abbruch getan. Krax war eine Lebenskünstlerin. Darin eifern wir ihr nach.