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Der Elefant in Platons Höhle

Gewöhnlich leben Blinde nicht in Platons Höhle. Doch mag ich das Schattengleichnis, weil es mich nach meiner Erblindung umtrieb, als ich mit meinen mir verbliebenen 2 Prozent Sehkraft auf Schritt und Tritt daran erinnert wurde, wenn ich anfangs vor den Schatten erschrak, die sich mir manchmal lautlos, manchmal vernehmlich näherten. Ich lernte recht rasch, mich an Schatten zu orientieren und so verloren sie bald ihren Schrecken. An sie gefesselt bin ich nicht, denn ich muss nur ein Auge schließen und schon sind sie weg. Auch eine Weise, durch Nacht zum Licht zu kommen. Seither versetze ich Blinde gern in Platons Höhle, obwohl das so eben nicht ganz stimmt.
Und der Elefant? Tauchte prompt in einem Dorf auf, in dem nur Blinde lebten. Da für sie der Tastsinn oft, wenn auch nicht immer den Sehsinn ersetzt, greifen sie zu und stellen fest, dass der Rüssel lang, die Zunge weich, die Haut hart, das Bein dick ist usw., haben alle Recht und eine wahre Aussage gemacht, aber doch das Ganze, den Elefant als solchen nicht erfasst. Die gleichnishafte Geschichte soll ein islamischer Mystiker erzählt haben, höre ich von Navid Kermani, um zu zeigen, dass alle Religionen Wahres vermitteln, aber eben jede für sich nie die ganze Wahrheit. Sehr schön und vielleicht platonisch inspiriert, wer weiß. Das Christentum ist das jedenfalls mit Sicherheit. Die Geschichte vom Elefanten unter Blinden passt in eine Zeit, die gelernt hat oder wenigstens dabei sein sollte zu lernen, dass die verschiedensten Religionen miteinander auskommen müssen, wenn sie alle an einem Ort benachbart und beheimatet sein wollen. So weit, so gut. Ich bin sehr einverstanden mit dieser Idee der Vielfalt in der Einheit.
Die Elefantenrunden nach Wahlen in liberalen Demokratien sind zwar weder vom Gleichnis des islamischen Mystikers noch vom Ständestaat Platons inspiriert, aber ihre Teilnehmer und Teilnehmerinnen haben doch der Tatsache ins Auge zu blicken, dass das Bein mehr Stimmen auf sich vereinigen konnte als die Zunge und diese vielleicht weniger als der Rüssel und die Haut mehr als das Ohr, aber der Schwanz sowieso vorne liegt bei allen Stimmenanteilen, weshalb der ganze Hund  für vier Jahre maßgeblich – wenn auch nie und nimmer ausschließlich – mit ihm wackeln wird. Im Jahr fünf danach kann sich alles ändern. Immer. Für Religionen aber gilt das nicht.
Kurz und gut: Religiöse und weltanschauliche Wahrheitsansprüche sind nicht entscheidend, wenn es darum geht, nach weltlichen, genauer gesagt: demokratisch-rechtsstaatlichen Regeln miteinander klarzukommen. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn ein Individuum glaubt, im Besitz der alleinseligmachenden oder alleinigen Wahrheit zu sein. Schwierig wird es erst dann, wenn es von anderen Individuen verlangt oder sie gar dazu zwingt, ihm das widerspruchslos abzunehmen. Religionen sind wichtig und vor allem müssen wir sie und ihre Geschichten kennen, soweit sie unseren Alltag betreffen. Es gibt Situationen im Leben, in denen Religionen Menschen helfen, sich in ihnen zurechtzufinden, andere Menschen haben andere Weisen, mit Schwierigkeiten, Krankheit, Sterben, Tod etc. umzugehen. All das ist akzeptabel. Für mich sind Religionen schon deshalb interessant, weil sie noch bis vor sehr kurzer Zeit die Vorstellungswelten und den Umgang vieler Menschen miteinander geprägt haben. Mein Interesse an Religionen ist allerdings ein kulturhistorisches, auch wenn ich mich eher als Agnostikerin denn als Atheistin bezeichnen würde. Deshalb stelle ich Elefanten auch in Platons Höhle ab und nirgends sonst!